Zeitgespräche – Makellosigkeit

Unser Leben ist geprägt von der Strategie „Alles ist möglich“, dazu noch geschnürt in ein optimales Paket der absoluten Makellosigkeit. Mit dem entsprechenden Willen und eiserner Disziplin lässt sich dies, so scheint es bewältigen.
Wer sagt, dass es so zu sein hat? Wer legt eigentlich die Regeln fest? Oder sind wir nicht eher Bestandteil eines Räderwerkes, dass sich immer schneller dreht und vermeintlich nicht mehr die Möglichkeit gibt etwas zu verändern?

Nataly Bleuel schreibt dazu in Ihrem neuen Buch folgendes: „Ich verinnerlichte die „Kultur der Makellosigkeit“. So nennt es der Kulturkritiker Robert Pfaller. Es ging nicht mehr  um Geselligkeit, um die Freude am Andersartigen und an der Vielfalt, um das Schöne und das Gute. Sondern um die Kontrolle des Ich. Das Leben hat auf Kosten und Nutzen hin kalkuliert zu werden. Auf Gewinn.
Also riss ich mich zusammen und hielt mich selbst für korrigierbar. Morgens um halb sieben stand ich auf, ich lief zum Yoga, zum Therapeuten und vielen anderen Reparaturwerkstätten mit Spa und Wellnessabteilung, die mich über das Wochenende schnell soweit herstellten, dass ich am Montag wieder zur Arbeit konnte, zum Elternabend und weiter durch mein adrettes Leben.
Ich wirkte auf mich  wie eine Karrikatur meines Selbst. Von dem ich immer öfter nicht mehr wusste, wer oder was es war. Das ich immer abstoßender fand. So sehr, dass ich mich manchmal ermahnen – lassen – musste: Jetzt mach doch mal halblang! Wenn es der Mann an meiner Seite sagte, wurde ich wütend. Wer sollte den Laden denn sonst schmeißen? Wenn es meine Eltern sagten, dachte ich: Bei euch war eben noch alles anders! Und wenn es meine Freundin sagte, blickte ich aus dem Fenster und zischte, vorbei an dem Kloß, der sich im Hals ballte, „Aber wie denn?“
(Quelle:Nataly Bleuel, Ich will hier raus, Herder Verlag)